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Warum Barrierefreiheit unser aller Leben retten wird

  • Autorenbild: Special Editorial
    Special Editorial
  • 3. Dez.
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 3. Dez.

Am 3. Dezember, dem von den Vereinten Nationen ins Leben gerufenen «Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen», fordert die UNESCO in diesem Jahr einen neuen Fokus ein: Leadership. Es geht nicht mehr nur um Teilhabe. Es geht um Führung.


Wenn wir in Europa – von den Redaktionen des Guardian in London bis zur NZZ in Zürich – über die großen Krisen unserer Zeit debattieren, fällt oft ein Wort: Resilienz. Wir suchen nach der Widerstandskraft unserer Demokratien, unserer Lieferketten, unserer Bildungssysteme. Doch während wir händeringend nach Strategien suchen, um mit einer unsicheren Zukunft umzugehen, übersehen wir konsequent jene Gruppe, die im Umgang mit Unsicherheit und Barrieren die größte Expertise besitzt.


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Genau hier mahnt die UNESCO dieses Jahr zu Recht einen neuen Fokus an: «Leadership». Es geht nicht mehr nur um Teilhabe. Es geht um Führung. Und das ist eine Nachricht, die nicht nur Betroffene angeht, sondern jeden von uns. Denn eine Welt, die inklusiv gestaltet ist, ist nachweislich eine Welt, die für alle besser funktioniert.


Illusion des Durchschnitts


Unsere Gesellschaften, unsere Architektur und unsere Wirtschaft sind noch immer für einen statistischen Durchschnittsmenschen gebaut, den es in der Realität kaum gibt. Das ist nicht nur diskriminierend, es ist verschwenderisch. Wer Inklusion fordert, fordert in Wahrheit bessere Qualität. Ein abgesenkter Bordstein hilft dem Rollstuhlfahrer, aber auch dem Vater mit Kinderwagen, den Reisenden mit Rollkoffer und dem Fahrradfahrer. Untertitel bei Videos – ursprünglich für gehörlose Menschen entwickelt – werden heute von Millionen Pendlern in der U-Bahn genutzt.



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Barrierefreiheit ist kein Nischenprodukt für eine Minderheit. Sie ist ein universeller Standard für Benutzerfreundlichkeit (Usability). Wenn wir Inklusion ignorieren, bauen wir schlechtere Systeme für alle.


Bildung als Systemfrage, nicht als Positionsfrage


Wie fundamental dieser Wandel sein muss, zeigt der aktuelle Global Education Monitoring (GEM) Report der UNESCO. Er räumt mit einem weit verbreiteten Missverständnis auf:


«Inklusive Bildung bedeutet nicht bloß, Schüler mit Behinderungen in regulären Einrichtungen zu platzieren; sie verlangt systemische Änderungen an Lehrmethoden, Lehrplänen und Umgebungen.»

Das Zitat ist brisant. Es sagt: Es reicht nicht, die Tür einen Spalt zu öffnen. Wir müssen den Raum dahinter verändern. Ein Bildungssystem, das auf die Bedürfnisse von Kindern mit Behinderungen eingehen kann – durch individuelle Förderung, flexible Lehrpläne und empathische Pädagogik –, ist automatisch ein besseres Bildungssystem für das hochbegabte Kind, für das Kind mit Migrationshintergrund und für den ganz «normalen» Schüler, der in einem starren System untergeht.


Das ungenutzte Potenzial der Problemlöser


In den Wirtschaftsberichten von Les Echos bis zum Handelsblatt lesen wir täglich vom Fachkräftemangel und Innovationsdruck. Gleichzeitig lassen wir das Potenzial von 1,3 Milliarden Menschen mit Behinderungen weltweit brachliegen.

Dabei bringen gerade Menschen mit Behinderungen Fähigkeiten mit, die in der modernen Arbeitswelt wie etwa in New Work als Schlüsselqualifikationen gelten:


  1. Anpassungsfähigkeit: Wer in einer nicht-barrierefreien Welt lebt, muss täglich improvisieren und neue Wege finden.

  2. Technologische Affinität: Viele assistive Technologien sind Vorreiter für den Massenmarkt (Sprachsteuerung, Eye-Tracking).

  3. Perspektivenvielfalt: Diverse Teams erkennen Risiken früher und lösen Probleme kreativer.


Das diesjährige UNESCO-Thema «Die Führungsrolle von Menschen mit Behinderungen stärken» (Amplifying the leadership of persons with disabilities) ist daher kein Appell an unser Mitleid. Es ist ein Appell an unsere Vernunft. In einer Welt voller komplexer Probleme können wir es uns schlicht nicht leisten, auf die Problemlösungskompetenz von 16 % der Weltbevölkerung zu verzichten.


Inklusion als Überlebensstrategie


Inklusion ist keine Wohlfahrtsveranstaltung. Sie ist ein Indikator für die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft. Wenn wir Städte bauen, in denen sich auch ein blinder Mensch sicher orientieren kann, bauen wir intuitive Städte für alle. Wenn wir Schulen schaffen, die niemanden zurücklassen, schaffen wir eine gebildete Gesellschaft für alle. Wenn wir Führungspositionen für Menschen mit Behinderungen öffnen, gewinnen wir resilientere Unternehmen für alle.


Es ist Zeit, dass die Schlagzeilen in Europa nicht mehr nur von den «Kosten der Inklusion» handeln, sondern von ihrem Gewinn. Barrierefreiheit ist der Schlüssel zu einer Welt, die nicht nur für wenige funktioniert, sondern für alle lebenswert ist und uns vor der Ignoranz rettet.








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